06502 / 9369950 kontakt@katarina-barley.de

Das Bundesverfassungsgericht hat Anfang Mai ein Urteil gefällt, das viele überzeugte Europäerinnen und Europäer – so auch mich – sehr enttäuscht hat. Zum einen fordert das Gericht darin Nachbesserungen bei der Begründung für ein Programm der Europäischen Zentralbank (EZB) zum Kauf von Staatsanleihen. Noch wichtiger aber: Das deutsche Verfassungsgericht untergräbt die Autorität des Europäischen Gerichtshofes. Dies ist gerade angesichts der fortschreitenden Abkehr einiger Mitgliedstaaten von Rechtsstaat und Demokratie ein fatales Signal. 

Doch der Reihe nach: Das Urteil betrifft ein Programm der EZB aus dem Jahr 2015, mit dem die Zentralbank und die Notenbanken der Eurozone Staatsanleihen der Euroländer kaufen. Die EZB nutzt solche Anleihekäufe, um Zinsen und Inflation im Euroraum zu regulieren. Das ist in Krisenzeiten wichtig, denn Unternehmen und Staaten können sich durch günstige Zinskonditionen Geld leihen und so die Wirtschaft am Laufen halten. Die Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht hatten argumentiert, dass es sich bei den Anleihekäufen um unerlaubte Staatsfinanzierung handelt. Diesen Vorwurf hat das Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen. Allerdings bemängeln die Karlsruher Richterinnen und Richter, dass die EZB nicht eindeutig genug begründet hat, wie sich ihre Maßnahmen auf die Wirtschaft auswirken. Diese Begründung muss innerhalb von drei Monaten nachgeliefert werden, ansonsten müsste die Deutsche Bundesbank aus dem Anleihekaufprogramm aussteigen. Schon dieser Teil des Urteils ist bedenklich, denn auf die Unabhängigkeit dieser Einrichtung hatte gerade auch das Bundesverfassungsgericht größten Wert gelegt. Die geforderte Begründung der Verhältnismäßigkeit der Anleihekäufe könnte die EZB zwar relativ einfach nachliefern – dann bliebe das Urteil für die europäische Währungsgemeinschaft ohne große Folgen. Ob die EZB sich diesem Druck aus einem Mitgliedsstaat beugen wird, bleibt abzuwarten.

Viel gravierender sind die zu erwartenden Auswirkungen des Karlsruher Richterspruchs auf die europäische Rechtsgemeinschaft. Denn damit das Bundesverfassungsgericht das Vorgehen der EZB bemängeln konnte, musste es zuerst ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) von 2018 für unbeachtlich erklären. Darin hatte der EuGH grünes Licht für den Anleihekauf durch die EZB gegeben. Das Bundesverfassungsgericht wirft dem EuGH nun vor, bei diesem Urteil das Vorgehen der EZB zu wenig geprüft zu haben. Deshalb sei es in dem Fall außerhalb der Kompetenz des EuGH, über die EZB zu urteilen. 

Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass Karlsruhe dem obersten europäischen Gericht Kompetenzüberschreitung vorwirft. Dieser Vorwurf ist bereits von vielen Expertinnen und Experten als unbegründet bezeichnet worden. Dennoch sind die Folgen des Urteils gravierend. Denn damit stellt das höchste Gericht des größten Mitgliedsstaates die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofes für die Auslegung des Europarechts in Frage. Das ist angesichts des offenen Feldzuges gegen den Rechtsstaat in manchen EU Staaten, allen voran Ungarn und Polen, ein fatales Signal. Denn bisher war es von allen europäischen Institutionen im Wesentlichen der Europäische Gerichtshof, welcher es vermocht hat, den Rechtsstaat hochzuhalten und den Regierungen in jenen Ländern Einhalt zu gebieten. Wie zu erwarten war, frohlockte die polnische Regierung bereits über den Richterspruch aus Karlsruhe. Künftig wird es noch schwerer werden, rechtsstaatsfeindliche Regierungen in Europa zur Verantwortung zu ziehen. Diese Regierungen stellen schon jetzt die Kompetenz des EuGH in Frage. Das Bundesverfassungsgericht macht ihnen diese Argumentation künftig leichter. 

Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich schätze das Bundesverfassungsgericht über alle Maßen. Ich hatte die Freude, selbst dort zu arbeiten und weiß, dass das Gericht zu Recht höchstes Vertrauen in der deutschen Bevölkerung genießt. Doch auch große Institutionen haben schwarze Tage. Es gehört zum Rechtsstaat, Gerichte und ihre Urteile zu respektieren. Der europäischen Rechtsgemeinschaft hat Karlsruhe jedoch keinen Gefallen getan. Wie damit umzugehen ist, wird eine wichtige Debatte für die Zukunft der Rechtsstaatlichkeit in der EU sein.